Igelfreundliche Umgebung

Staub ist Zivilisation: Das Internationale Staubarchiv

Welches Verhältnis hast Du persönlich zu Staub?
Ein liebevoll bis dramatisches Verhältnis.

(Wolfgang Stöcker im Interview mit Ute im März 2015)

Ein Gastbeitrag von Wolfgang Stöcker über sein Staubarchiv, Sinn und Unsinn und warum Staub kulturbildend ist.

Am Samstag, den 13. Juli, werden wir mit ihm eine Staubexpedition auf einem ehemaligen Indurstriegelände in Köln-Deutz im raum13 unternehmen. Unter #Staubrausch werden wir diese Staubvermessung bei Twitter und Instagram dokumentieren.

2004 in Köln zunächst als Deutsches Staubarchiv gegründet, wurde das Projekt Anfang 2019 in Internationales Staubarchiv umbenannt. Rund 600 Proben lagern zur Zeit in den Beständen. Sie sind unterteilt in: Sakrale Stäube / Politische Stäube / Kulturstaub / Naturraumstaub / Kulinarische Stäube / Musikalische Stäube.

Alles kann verstauben

Das Archiv dokumentiert die Anwesenheit von Staub an Orten der „hohen Bedeutungen“. Architekturen oder einzelne Werke der bildenden Kunst vermitteln „das Bedeutende“ schon fast als eine vom Menschen abgekoppelte, autonome Größe. Dabei dürfte spätestens in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts klar geworden sein, wie sehr Bedeutungen, Werte, Gewissheiten und vermeintlich sichere Punkte menschlicher Kultur und Zivilisation in den Abgrund gerissen werden können.

Der Staub ist ein Mahner für mögliche Schrecken und vor diesem Hintergrund eine ins Positive gerichtete Kraft. Alles kann verstauben. Nicht nur materielle Kunst- und Kulturgüter, nein vielmehr Immaterielles, die zahlreichen Ausformungen unterschiedlicher Gesellschaftsformen können vergehen, weshalb Pflege und eine liebevolle Hinwendung zu den Dingen notwendig ist. Kehren ist ehren!

Staub ein Motor für Kultur

Die permanent empfundene Realität eines möglichen Verfalls, symbolisiert durch den chaotischen Staub, ist eine starke Motivation für pflegende Maßnahmen. So ist Staub ein Motor für Kultur, denn Kultur bedeutet Pflege. Kehren und Wischen sind Kulturtechniken, und am Anfang steht der Staub. Er ist ein Material des Übergangs, Beginn und Ende zugleich, ein kraftvoller Basisstoff, der uns täglich die Illusion des staubfreien Moments zerstört.

Gesellschaften durchleben permanent bedrohliche Verlustzustände. Verfall ist überzeitlich und zeitlich zugleich, auf jeden Fall grenzenlos aktiv.  Andererseits ist der Staub sanft und nie maßlos. Nichts verstaubt bis zur Unkenntlichkeit. Unter den staubigen Schichten schauen die Dinge gefiltert hervor und warten auf erneute Reinigung.

Mit jeder Hervorbringung eines Gegenstandes sind dem Staub Siedlungsgebiete eröffnet. Unsere Produkte sind Wohnungen der Stäube. Ordnung und Unordnung, Sinn und Unsinn bedingen sich gegenseitig. An der Grenze des Staubes fließen diese im Grunde nur theoretisch unterscheidbaren Begriffe ohnehin ineinander.

In einer menschenleeren Natur kommt Staub nicht vor

Selbstredend ruht die hier vorgenommene Interpretation des Staubes ausschließlich auf den künstlichen Fundamenten menschlicher Interpretationen. Denn in einer menschenleeren Natur käme Staub als Antimaterie gar nicht vor. Im Reich der reinen Stoffe ist alles nützlich und in ständige Transformationen eingebunden. Diesem lebendigen, völlig wertfreien Spiel kann nur zugeschaut werden. Dem Menschen sind solche Prozesse, die zugleich ohne ihn frei von Moralsätzen wären, durchaus verschlossen.

Es ist uns nur möglich zu existieren, indem wir eine pflegende Hand an die Dinge legen und vor diesem Hintergrund zwangsläufig Wertungen vornehmen müssen, um nicht im Nebel des Indifferenten zu verirren oder – schlimmer noch – im Wahn von Hybris oder Grenzenlosigkeit verrückt zu werden. Somit ist die Existenz des Staubes eine höchst notwendige Angelegenheit.

Zivilisation und Schmutz bedingen sich gegenseitig. Dass letztlich wahrscheinlich wirklich alles zerkrümeln und verfallen wird, ist ohne Belang. Jeder Moment ist ein totales Erlebnis des Seins. Die Zeitspanne unserer Leben hält eine Fülle von möglichen Erfahrungen für uns bereit. Schrecken und Glück sind maximal möglich.

Fehlende und geborgene Stäube

Vor dem Hintergrund dieser wirklich großen Bezüge vollzieht sich der dokumentierende Prozess des Internationalen Staubarchivs. Bisher konnte noch an allen Kristallisationspunkten von Kultur und Kunst Staub nachgewiesen werden. Trotzdem gibt es Orte, die sich der Dokumentation bisher hartnäckig widersetzen. Bis heute haben beispielsweise weder das Kanzleramt noch der Amtssitz des Bundespräsidenten Staubproben eingesandt. Was bedeutet es, wenn sich gerade Orte politischer Kultur einer Akzeptanz des Staubes verweigern, sich gar, wie im Falle von Schloss Bellevue, für staubfrei halten?

Ungeachtet solcher Widerstände hat das Internationale Staubarchiv in den letzten Jahren viel Unterstützung erfahren. Auf vielen Kirchenspeichern durften Proben genommen werden, manche Museen konnten für größere Staubvermessungen gewonnen werden. Das Archiv wächst und kann seine Bestände stetig ausweiten, wobei jeder Staub auch neue Geschichten von den Fundorten ins Archiv bringt.

Der Staub ist nie Selbstzweck sondern eine Art Angelpunkt für weitreichende Überlegungen von denen hier auf Grund der Kürze des Textes nur einige angerissen werden konnten. So wurden etwa mit der freundlichen Unterstützung des Museums Burg Posterstein (Thüringen) Untersuchungen zu Besenkammern und deren Entstehungsgeschichte im Hausbau möglich. Der Kunstverein Ahlen zeigte 2018 den vollständig geborgenen Staub des Jahres 2017 aus dem Museum Ludwig Köln.

Flusen in Wachs: Staubschreine

Nicht zu übersehen ist dabei auch die seit 2015 entstehende Werkreihe der Staubschreine. Partikel und Flusen werden in Wachsplastiken eingegossen. Bereits hunderte von Mikrodenkmalen existieren. Alle gefertigt aus dem sensiblen und brüchigen Material des Wachses. Das 21. Jahrhundert ist keine Zeit der Bronze und keine Zeit des Marmors. Zwar stehen die Denkmale alter Schule noch überall herum. Der unendliche Ruhm, von dem sie künden, konterkariert sich jedoch selbst.

Zwischen „flatterhafter“ Kunst und „seriöser“ Wissenschaft

So ist das Internationale Staubarchiv ein vielschichtiger Versuch, den Erscheinungen von Kunst und Kultur mit den Mitteln des Archivierens, Zählens, Wiegens und Messens auf den Grund zu gehen, wobei auch Disziplinen von Zeichnung, Malerei, Fotografie und eben das plastische Arbeiten zum Einsatz kommen. Der Beuyssche Begriff von der Sozialen Plastik wirkte dabei immer inspirierend, wie auch die Arbeiten von Dieter Roth, Daniel Spoerri oder etwa, in einem weiteren Sinn, die Werke eines Raymond Haynes. Die sehr unvoreingenommen und wenig dogmatisch auf den Staub angewendeten methodischen Versatzstücke „ernsthaften“ wissenschaftlichen Arbeitens lassen das Internationale Staubarchiv im Grenzbereich zwischen „flatterhafter“ Kunst und „seriöser“ Wissenschaft oszillieren.

Wolfgang Stöcker

Köln, 24.05.2019
gegen 10.10 Uhr,
Wetter sonnig,
Vögel singen.

Das audiovisuelle Proträt, das Wibke im Auftrag des Museum Burg Posterstein für die Ausstellung Zum Wesen des Staubes erstellt hat. Die Ausstellung läuft noch bis zum 18. August.

Dr. Wolfgang Stöcker, 1969 in Bergisch Gladbach geboren, lernte Vermessungstechnik, studierte Kunst, Geschichte und Pädagogik in Köln und promovierte zum Thema Bestattungskultur im Rheinland. 2004 gründete er das Deutsche Staubarchiv (2019 umbenannt in Internationales Staubarchiv) und bietet u.a., Staubführungen und Führungen in den Mikrokosmos der Orte an. Stöcker lebt und arbeitet freischaffend in Köln.

https://stoeckerkunst.de

Ihr fragt Euch nun, wie Ihr selbst Teil des Staubrauschs werden könnt? Nun, und das geht so … *cliffhanger* Morgen erklären wir hier, wie das geht. 🙂

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