Ich steige die Stufen hoch, drehe mich um, breite die Arme aus, atme aus, atme ein – und lasse mich rückwärts fallen.
Haltung und Fall. Das Marta Herford widmet sich einem Begriffspaar, das es in sich hat. Haltung beziehen, Haltung einnehmen, Haltungen überprüfen: Was ist Haltung eigentlich? Wie ist meine Haltung zu gesellschaftlichen Fragen, zu politischen Entscheidungen, zu globalen Entwicklungen?
Haltung. Halte ich mich gerade, wanke ich, falle ich, finde ich meine Balance? Wer zu starr steht, fällt leichter um. Es gilt also, beständig die eigene Haltung zu prüfen, locker zu bleiben, ein Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung zu finden.
An dieser Stelle möchte ich ein Lob aussprechen für die mehrteiligen Publikationen des Marta Herford zur Ausstellung. Sie sind handlich, schön gemacht, in sich schlüssig – und vor allem stinken sie nicht. Letzteres ist bei Ausstellungskatalogen leider oft ein Problem für sensible Nasen.
Im Essay-Band schreibt Kuratorin Ann Kristin Kreisel von der Vielschichtigkeit der Begriffe Haltung und Fall: Ikarus‘ Sturz vom Himmel als Sinnbild des Scheitern, das Scheitern als Möglichkeit eines Neubeginns, die gesellschaftlichen Spannungen weltweit, der Ruf nach Haltung und das Einbeziehen des Körpers, das Ringen mit der Welt.
„Jenseits von Sprache oder Schrift avanciert der Körper zum inmittelbaren Ausdrucksträger künstlerischer Vorstellungen. […] Die körperliche Präsenz wird dabei zur Haltung, zur Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, bis hin zur politischen Handlung, zur Körperpolitik.”
Die Pose und der Sturz
Und so bringt das Marta seine Besucher*innen auch gleich beim Betreten der Ausstellung in Bewegung, innerlich wie auch äußerlich. Der Fall vom Treppchen auf die Turnmatte, die Fragen im Spannungsfeld von Freiheit, Kunst und Sicherheit, die Suche nach Balance und der Körper als Feld politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Dazu klappen in mir gleich etliche Hashtags auf, mit denen der menschliche Körper in Social Media vermessen und debattiert wird.
Man betritt aufgewärmt und bewegt die Ausstellung. Nun wohnten wir der Eröffnung bei. Es war ein warmer, sonniger Abend, in der Stadt war ein großes Fest, vielerorts wurden die Grills angeworfen – und das Marta war voll. Und es ist schon ein Kompliment für dieses Museum, das anfangs von vielen Herfordern als Fremdkörper wahrgenommen wurde, dass die Menschen nicht nur kommen. Nein, sie lassen sich entschlossen auf die Ausstellung ein.
Anke schrieb in ihrem Blogbeitrag insbesondere über die beiden Performances, die in ihrer Unterschiedlichkeit nicht nur uns Drei überzeugten.
In unserer Story drüben bei Instagram sieht man mehr vom Abend.
Im Trailer sieht man Aufnahmen von dem Eröffnungsabend. Und man sieht, mit wieviel Freude und Ernsthaftigkeit das überwiegend ostwestfälische Publikum den Raum zwischen Haltung und Fall auslotet. (Und wer Ostwestfalen ein wenig kennt, ahnt, was das bedeutet.)
Was bleibt?
Ich habe schon oft gesagt, dass ich das Marta betrete und es verändert verlasse. Nein, nicht jedesmal. Doch an dem Abend sprachen wir auch nochmal über die Ausstellungen, die immer noch präsent sind, die einen mit sich selbst und mit der Welt in Kontakt gebracht haben. Für mich waren das Die innere Haut, Der fremde Raum, Brutal schön, Magie und Macht, ganz besonders aber die Retrospektive von Anders Petersen. Dafür reiste ich gleich zweimal nach Herford, denn die Bilder ließen mich nicht los.
Haltung und Fall verlasse ich bewegt und aufgewühlt, aber auch seltsam getröstet, denn die ganz unterschiedlichen Annäherungen an dieses Begriffspaar macht mir deutlich, wie gefordert und angemessen das Ringen um Haltung und die Welt ist.
Mir wurde bewusst, wie priviligiert ich bin, wie priviligiert unsere Gesellschaft ist. Nicht zuletzt die Performance von Naufus Ramírez-Figueroa macht dies auf überaus poetische Weise deutlich.
Eine Reise wert
Das Marta Herford ist sicher nicht das am leichtesten zu erreichende Museum. Und doch: Die Reise nach Ostwestfalen lohnt sich. Haltung und Fall ist noch bis zum 6. Oktober zu sehen. Nun ja, mehr als zu sehen. Das ist ganzer Einsatz gefragt oder vielmehr möglich. Und wer die Reise scheut oder nicht hinreisen kann: Das Marta Herford ist auch digital erreichbar, etwa im Blog, wo sie sich immer wieder selbst hinterfragen und ergründen, was Museum heute sein kann.
Marta Herford bei Twitter
Marta Herford bei Instagram (Hashtag #martaherford)
Überdies hat das Marta Herford einen der wenigen auf Twitter aktiven Museumsdirektoren, Roland Nachtigäller.
NACHTRAG: Richtig gut fand ich im übrigen die Texte in der Ausstellung in Leichter Sprache. In Ergänzung zu den Texten im Guide erschließt sich das Konzept der Ausstellung umso besser. Die Texte vermisse ich indes im Guide.
+++ Wir reisten auf Einladung des Marta Herford zur Ausstellungseröffnung. Das Museum übernahm unsere Reise- und Übernachtungskosten, sorgte aufs Beste für unser leibliches Wohl und stellte uns die Kataloge zur Ausstellung zur Verfügung. Herzlichen Dank! +++
Für mich der schönste Satz in diesem Text über uns ist „Haltung und Fall verlasse ich bewegt und aufgewühlt, aber auch seltsam getröstet…“ – Was kann man mit einer Ausstellung mehr wollen und erreichen? Vielen Dank fürs Kommen und Dasein, für den kritischen Blick und die hilfreichen Kommentare!
Herzlichst
Roland Nachtigäller