Laut Lucius Burckhardt, Erfinder der Spaziergangswissenschaft, entsteht Landschaft erst im Kopf des Betrachters. Sie ist ein Konstrukt, deren „Grammatik und Wortschatz den dichterischen Anfängen der Kunst entstammen“*. In seinen promenadologischen Betrachtungen beschäftigt sich der Soziologe, Planungstheoretiker, Ökonom und Kunsthistoriker „mit den Sequenzen, in welchen der Betrachter seine Umwelt wahrnimmt.” Wann etwa empfinden wir Landschaft als schön und wann stören wir uns an einer Verhässlichung der Landschaft?
Ausgehend von Burckhardts Ideen der Spaziergangwissenschaft entwickelten wir Methoden und Strategien für eine digitale Promenadologie. Mit dem Smartphone in der Hand vollziehen wir Landschaftserfahrung in einzelnen Schritten nach und dokumentieren sie in den digitalen Raum. Anlass und Auslöser hierfür war eine Anfrage der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, uns etwas für die Ausstellung Unter freiem Himmel auszudenken. Ziemlich rasch waren wir von einer rein digitalen Aktion im Geiste vom Flohzirkus oder den #pantwitterspielen über einen Anflug von Instawalk bei einer ganz anderen Idee: Wir gehen raus in die Landschaft und erfinden oder adaptieren Methoden, um sie zu erkunden und zu erleben und zu dokumentieren, was man dort sieht und tut. Diese Erkundung fließen unter einem Hashtag als Serviervorschlag zusammen: #wirziehnfallera!
Mithilfe unserer Handreichung kann fortan jeder Landschaft mit den Methoden der digitalen Promenadologie erkunden und die Eindrücke mit anderen teilen. Und sie um eigene Methoden und Erfahrungen anreichern.
Perspektivwechsel ist unser Lieblingssport
„Bestimmte Perspektiven kann man wohl nur durch Kunst vermitteln, da die Beschränkung des Blickes heute so weit verbreitet ist, dass die Leute kaum mehr die Distanz haben, sie aufzuheben. Das kann nur die Kunst vermitteln, ohne belehrend oder verletzend zu sein. Mit unseren Spaziergängen schalten wir die Angst vor dem Ungewohnten aus. Und außerdem macht es Spaß.“ So Lucius Burckhardt in einem Gespräch mit Hans Ulrich Obrist während einer Taxifahrt duch Bordeaux im Jahr 2000*.
Den Blick zu heben und ganz neu auf Vertrautes zu richten, kann ungeheuer aufregend sein. In dem Moment, in dem man Landschaft erkennt, das Vertraute hinterfragt und Landschaft nicht mit Natur verwechselt, sondern als vom Menschen real oder imaginär geschaffen, nimmt man sich selbst als gestaltenden Menschen wahr. Hier darf man ruhig auch an Beuys denken, der den Menschen als künstlerisches und somit als gestaltendes Lebewesen begriff: „Nichts muss so bleiben, wie es ist.“
#wirziehnfallera
„Und außerdem macht es Spaß.“ Ernsthaftigkeit in der Sache schließt Leichtigkeit nicht aus. Unser Credo fließt auch in die digitale Promenadologie ein. Ironie überwinden, Spieltrieb, Genuss und Schabernack ermöglichen Kontakt mit Neuem, Fremden oder Alltäglichem – und sobald Kontakt entsteht, wird eine weitere Annäherung möglich. Mit allen Sinnen.
Am 19. Mai war es dann soweit und wir Herbergsmütter trafen uns in der Eifel. Dort gibt es viel Landschaft! Nun, Wonnemonat Mai – hallo? Auf Wonne reimt sich bekanntlich Sonne. Das störte das Wetter allerdings nicht. Was soll’s, uns auch nicht. Letztlich war der stetig vor sich hinwässernde Landregen (für die Landwirtschaft vermutlich ein Träumchen!) wohl auch ein Segen. Denn wir gerieten derart in Erkundungseifer, dass wir die Zeit vergaßen und weit länger als in den anberaumten zwei Stunden Landschaft erforschten. Fröstelte es uns nicht irgendwann und wären wir nicht dann doch völlig durchgeweicht gewesen – wir erkundeten wohl immer noch.
Zwischenzeitlich turnten wir mit #wirziehnfallera in den Trending Topics bei Twitter herum. Wir freuten uns zusammen mit der Kunsthalle Karlsruhe über das schöne Feedback aus allen Kanälen über #wirziehnfallera.
Wir starteten übrigens mit einer Lesung von Texten aus dem Ausstellungskatalog im schönen Literaturhaus Nettersheim, wo die Gemeindebücherei und die Buchhandlung Backhaus zu finden sind. Bei dieser Gelegenheit konnten wir Kerstin Wolff noch alles Gute wünschen: Die tatkräftige Leiterin des Literaturhauses hatte nach zwölfeinhalb Jahren ihren letzten Tag und wird künftig in Kerpen zu finden sein.
Vom Literaturhaus aus zogen wir los Richtung Naturzentrum und weiter zum Matronenheiligtum. Allein schon wegen der Beschilderung kam nun mal nichts anderes in Frage. Wir betrachteten Landschaft, wir lasen Landschaft, laut und leise, flochten Gedichte und Texte ein, machten uns Bilder, sammelten Gerüche und Geräusche, wir aßen Landschaft, dokumentierten Tierbegegnungen, twitterten und fütterten unsere Story bei Instagram. Und immer wieder summten wir unseren selbsteingebrockten Dauerohrwurm: Wir zieh’n, fallera!
Ausgewählte Anleitungen zur digitalen Promenadologie
Die kompletten Anleitungen gibt es hier als PDF zum Download.
#wirziehnfallera
Auf zur digitalen Promenadologie! Um die Landschaftserfahrung zu dokumentieren, nutzen Sie Ihr Smartphone. Machen Sie ein Foto zu Beginn und eines zum Ende des Spaziergangs.
Landschaft hören
Stellen Sie sich in die Landschaft und schließen Sie für drei Minuten Ihre Augen. Hören Sie in die Landschaft hinein. Anschließend schreiben Sie das Gehörte auf und geben es zum Beispiel in mehreren Tweets wieder. Beschreiben Sie das erste Geräusch, das Ihnen aufgefallen ist. Welches ist als nächstes hinzugekommen? Und welches haben Sie erst nach einer Weile entdeckt?
Landschaft sein
Baum sein, Stein sein, Gras sein, Wasser sein. Mit Ein-Minuten-Installationen stellen Sie Landschaftselemente dar. Wie fühlt es sich an, ein Baum zu sein? Erfunden hat die One-Minute-Sculptures übrigens der österreichische Künstler Erwin Wurm. Wurm sein? Auch das!
Landschaft rahmen
Dafür basteln Sie sich einen Papprahmen. Oder Sie nehmen einen handlichen Bilderrahmen. Mit diesem gehen Sie auf Motivsuche. Schauen Sie sich in der Landschaft um. Machen Sie sich ein Bild von der Landschaft. Probieren mit dem Rahmen mögliche Motive aus. Das, was Sie am meisten überzeugt, fotografieren sie als Landschaftsbild mit Rahmen.
Land Art
Bauen Sie ein Kunstwerk aus Materialien Ihres Spaziergangs. Stellen Sie es am Wegesrand aus. Achten Sie auf einen ruhigen Hintergrund, so dass die einzelnen Fundstücke gut zur Geltung kommen. Eine schöne Variante ist es, wenn man die Materialien in einer kleinen Pappschachtel zu einem Kunstwerk arrangiert.
Landschaftspoesie
Mit diesem einfachen Schreibrezept kann jeder ein kleines Landschaftsgedicht erstellen. Das klassische Haiku folgt dem Prinzip:
1. Zeile: 5 Silben
2. Zeile: 7 Silben
3. Zeile: 5 Silben
Erstellen Sie eine Kombination aus Bild und Text.
Tabea von der Kunsthalle Karlsruhe hatte für diesen Tag ein Storify zusammengestellt.
Auftakt, jawoll! Denn schon bald kann man sich mit der Kunsthalle Karlsruhe zusammen die Landschaft auf die Hand holen. Termine werden im Tumblr verkündet: wirziehnfallera.tumblr.com. Oder man schnappt sich die Handreichung und zieht selber los.
Unter freiem Himmel: Bis zum 27. August lässt sich durch Landschaftsgemälde aus sieben Jahrunderten lustwandeln. Gedichte, Geschichten und Essays beziehen sich auf die Gemälde und führen die Eindrücke weiter. Die Texte sind sowohl zu lesen als auch zu hören. Die CD mit den gelesenen Texten liegen auch dem Ausstellungskatalog bei.
*Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft.
Herausgegeben von Markus Ritter und Martin Schmitz, Martin Schmitz Verlag 2006.
Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt, dreiteiliger Essay von Martin Schmitz beim Deutschlandfunk
Anleitungen zur digitalen Promenadologie als PDF zum Download
*** Hinweis zur Transparenz: Wir führten #wirziehnfallera im Auftrag der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe durch und entwickelten dafür die Anleitungen zur digitalen Promenadologie. Wir bedanken uns für dieses schöne Projekt. ***
4 thoughts on “Wir zieh’n, fallera: Landschaft auf die Hand mit der digitalen Promenadologie”